Bundesrepublikanische Widerstände gegen die Öffnung der Stasi-Akten und das Volkskammergesetz vom 24. August 1990
-Interessenzwietracht bei der deutschen Einigung
von Christian Booß
aus: Horch und Guck, 2007 Heft 57
Am 4. September 1990 besetzte eine Gruppe von DemonstrantInnen ein Gebäude in der Berliner Normannenstraße, der ehemaligen „Drachenburg“ des DDR-Geheimdienstes. Die Räume waren einst von der Hauptabteilung XX, die u.a. die Oppostionsbekämpfung gesteuert hatte, genutzt worden. Nun saßen dort Bürgerrechtlerinnen mit Tradition wie Bärbel Bohley und Katja Havemann, die mit anderen durch den Aufruf des Neuen Forums das Startzeichen zur Revolution gegeben hatten. Aber auch weniger Prominente, die seit Jahren aktiv waren oder sich bei den Stasi-Besetzungen um die Jahreswende 1989/90 engagiert hatten, gehörten dazu.
Die Besetzung war ein Mißton im unaufhaltsamen Einigungsprozeß der beiden deutschen Staaten, vielleicht einer der schrillsten. Es ging dabei um die Zukunft der Akten des Staatssicherheitsdienstes und allgemein um den Umgang miteinander bei der Gestaltung des Einigungsprozesses.
„Die Vernichtung der Akten ist keine Lösung... Die Entscheidung über den Umgang, das heißt Aushändigung oder Vernichtung... muß von den Betroffenen gefällt werden... Die operativen Vorgangsakten müssen zur historischen Aufarbeitung unter Berücksichtigung des Datenschutzes zugänglich sein“, hieß es in der ersten Besetzer-Erklärung vom 5. September . Die Gruppe befürchtete auch, dass die „größte Altlast“ aus 40 Jahren DDR-Geschichte von westlichen Geheimdiensten gebraucht, das hieß in ihren Augen, mißbraucht, werden könnte.
Sie forderte – und stand damit keineswegs allein –, dass das Volkskammergesetz vom 24. August 1990 „in vollem Umfang“ Bestandteil des Einigungsvertrages werden müsse.
Zu Erinnerung: Im August 1990 hatte die frei gewählte Volkskammer nach einem langen Lernprozeß, der nicht zuletzt durch die Enttarnung von Spitzenpolitikern immer wieder stimuliert worden war, ein Gesetz zum Umgang mit den Stasiakten beschlossen. Die Abgeordneten hatten gehofft, mit diesem Gesetz Maßstäbe auch für die Zeit nach der Vereinigung zu setzen. Doch die deutsch-deutsche Verhandlungskommission mochte den Volkskammerprinzipien nicht folgen.
Die Tatsache an sich ist bekannt, die Ursachen dieser Weigerung sind jedoch sowohl damals und auch später nebulös geblieben. Zeitgenössische Akteure benannten zwar die „unterschiedlichen Auffassungen“ zwischen dem Bundesinnenministerium (BMI) und der Volkskammer als Grund für die betreffenden Defizite im Einigungsvertrag, erläutern diese aber nicht. Gemeinhin orientieren sich die Autoren, um die Differenzen deutlich zu machen, lediglich an den unterschiedlichen Konzeptionen zur Aktenaufbewahrung, soweit sie bekannt geworden sind: Der Dissenspunkt sei die zentrale Lagerung der Akten unter „Leitung eines Sonderbeauftragten und des Präsidenten des Bundesarchivs in Personalunion“ gewesen. Zitiert wird auch aus einem Telefax der Bundesregierung an das Innenministerium der DDR, der einem Brandbrief gegen das Volkskammergesetz gleicht und offenbar als Gesprächsgrundlage für die Verhandlungskommission zum Einigungsvertag diente.
Bis heute wird übersehen, dass die Alternative „Zentrale Lagerung unter Leitung einer Alt-(Bundes)Institution oder dezentrale Lagerung in ostdeutscher Regie“ (so vereinfacht der Grundgedanke des Volkskammergesetzes) nur organisatorischer Ausdruck gegensätzlicher Interessen bei der Frage des Zuganges zu den Akten, genauer zu einem Teil der Akten war. Vereinfacht: Jede der beiden Seiten hatte vorrangig „ihre“ Akten im Blick. Die Ostdeutschen hatten ihren „Aktenschock“ nach Bekanntwerden der Zahlen von Spitzeln und Aktenmengen durch Veröffentlichungen am „Runden Tisch“ um die Jahreswende 89/90 erlitten. Personalisiert wurden diese Erkenntnisschübe mit der Enttarnung von Spitzenpolitikern wie dem SDP-Vorsitzenden Ibrahim Böhme und seinem konservativen Gegenpart, Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, die die meisten auf der Seite der Bürgerrechte gewähnt hatten, als Spitzelpolitiker.
Der Schock der westdeutschen Eliten resultierte aus Verfassungsschutzinformationen. „Untergetauchte Stasi-Agenten“ hätten angeblich noch bis Mai 1990 weiter Telefonate von Westpolitikern aller Parteien abgehört und seien mit ihren Protokollen in den „Untergrund“ abgetaucht. Von hier aus planten sie, Westpolitiker durch Indiskretionen zu desavouieren, um so den nächsten Wahlkampf zum Nutzen der PDS in eine Schlammschlacht zu verwandeln. „Stasi-Tonbänder: Schmutzkampagne gegen Kohl?“ titelte am 1. Juli 1990 die Bild am Sonntag, die offenbar aus Geheimdienstkreise mit Informationen angefüttert worden war und stets gute Beziehungen zum Kanzleramt unter Kohl unterhielt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Geschichte durch die Phantasie von CDU-Wahlkampfstrategen und dienstbaren Geheimdienstlern zugespitzt worden war. An der eindeutigen strategischen Option, vagabundierende Akten zugunsten der PDS und zu Lasten des amtierenden Bundeskanzlers zu nutzen, müssen aus heutiger Sicht Zweifel bestehen. Denn in den Besitz solcher Akten dürften Nachrichtenhändler und Medien höchst unterschiedlicher Couleur gekommen sein. Selbstanbieter bei Verfassungsschutzämtern oder Aktenhändler aus ehemaligen Stasi-Dienstellen dürften vorrangig ihre eigenen Interessen im Blick gehabt haben. Dennoch, an dem Fakt, dass Abhörunterlagen auf dem „freien Markt“ waren, war nicht zu rütteln. Erst damit wurde man sich in den politischen Chefetagen des Westens bewußt, dass das Stasi-Thema nicht nur ein östliches Exotikum war. Während manche eher vornehm „erhebliche Rechtsverstöße“, den Eingriff in das grundgesetzlich geschützte Fernmeldegeheimnis, ja den Datenschutz allgemein im Blick hatten (FAZ 3.7.1990), ließ die linksalternative TAZ ihre investigative Phantasie spielen, indem sie von angeblich abgehörten Telefonaten zum „illegalen U-Boot-Geschäft mit Südafrika“ berichte (TAZ 4.7.1990).
Der zeitlich gut platzierte Artikel in der auflagenstarken BamS schuf das Klima, in dem die Innenministerkonferenz tags darauf beschloss, die den Verfassungsschutzbehörden „zugegangenen“ (sic!) Abhörunterlagen „unverzüglich“ zu vernichten (Welt, 3. 7.1990). Die Medieninszenierung gerade über dieses Blatt war offenbar gewählt worden, da die Aktenvernichtung hinter den Kulissen nicht unumstritten war. Schon im März hatte der Staatssekretär des Innenministeriums, Neusel, im Innenausschuß des Deutschen Bundestages berichtet, „daß über lange Jahre Personen aus der Bundesrepublik von dem MfS ausgespäht worden seien insbesondere über Telefon. Tausende von Dossiers seien angelegt worden..“. Es bestehe die Gefahr, „daß diese Dossiers auch in die Bundesrepublik kämen, und daß Behörden und Nachrichtendienst sie bekämen. Das Kabinett habe beschlossen, daß alle diese Dossiers mit personenbezogenen Daten ungeöffnet vernichtet werden sollten.“ Diese Auffassung des BMI traf keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Mehrere Abgeordnete, auch der Union, fragten, ob derartige Unterlagen nicht auch zur Entlastung und Rehabilitierung benötigt würden und ob nicht auch die Abgehörten ein Recht hätten, den Akteninhalt zu erfahren. Man darf nicht vergessen, dass sich die Bundesrepublik noch fast auf dem Höhepunkt der Datenschutzdebatte befand. Das Verfassungsgerichtsurteil zur „informationellen Selbstbestimmung“, das den Bürgern das Prä bei der Verfügung über ihre Daten gab, dem Staat dagegen enge Grenzen setzte und die Speicherung von illegal erhobenen Daten verbot, war noch in aller Ohren.
Am schärfsten setzte der Vertreter des Koalitionspartners FDP, Burkhardt Hirsch, nach. Er fragte nach der „Rechtsqualität“ des Beschlusses. Es könne sein, dass die Dossiers „auf strafbaren Handlungen beruhen“ und fragte, „ob hier nicht eine Strafvereitelung im Amt vorliege“; ein solcher Beschluss dürfe nicht ohne Parlamentseinbindung umgesetzt werden.
Dem Staatssekretär gelang es, nicht ungeschickt, eindeutige Festlegungen des Ausschusses zu vermeiden, in dem er versprach, die Bedenken der Abgeordneten an die Bundesregierung weiterzuleiten. Eingeflochten hatte er freilich, dass an „die Behörden“ die Weisung ergehen würde, mit dem Vernichtungswerk zu beginnen. Dass die Frage, wie die Bundesregierung mit den noch im DDR-Besitz befindlichen brisanten Akten umgehen wolle, diese keineswegs so kalt ließ, wie es die coole Replik des Spitzenbeamten vermuten ließ, wurde im Agieren der Bundesregierung bei der Entstehung des Volkskammergesetzes vom 24. August bzw. des Einigungsvertrages deutlich.
Emissär der Bundesregierung in dieser Sache war ein Spitzenbeamter des BMI, Dr. Eckhart Werthebach. Als ständiger Vertreter des Abteilungsleiters für innere Sicherheit fungierte er als Berater der DDR-Regierungskommission für die Auflösung des MfS. Seine Verdienste bei der Beschaffung von brisanten Akten und Informationen und sein Agieren hinter den Kulissen wurde später bekanntlich mit der Funktion des Präsidenten bei Bundesamt für Verfassungsschutz belohnt.
Werthebach übte, soweit bislang bekannt, seinen Einfluß v.a. über das DDR-Innenministerium (MdI) und besagte Regierungskommission aus. Diese hatte der DDR-Innenminister Peter Michael Diestel nicht zuletzt deswegen ins Leben gerufen, um die Zurückdrängung der informellen Strukturen der Bürgerkomitees, die die ehemaligen Stasizentralen in Berlin und der Provinz kontrollierten, mit einem gesellschaftlichen Gremium zu legitimieren. Zu diesem Zwecke hatte er als Aushängeschilder im Mai 1990 Prominente aus DDR-Zeiten wie den Schriftsteller Stefan Heym und den in den Jahren 1957 bis 1960 inhaftierten Verleger Walter Janka berufen. Beide waren zwar keine stromlinienförmigen Kader, aber dennoch auch Exponenten des sozialistischen Sonderweges der DDR. Von daher wurde die Kommission, in der neben Vertretern der beiden Kirchen und zwei DDR-Juristen nur ein (gemäßigter) Vertreter der Bürgerkomitees eingebunden war, von Seiten der Bürgerbewegung immer mit Mißtrauen betrachtet. Sie tagte im DDR-Innenministerium im Beisein des Innenministers und/oder seines Stellvertreters, oft in Anwesenheit von Mitgliedern des staatlichen Auflösungskomitees, in dem Staatsvertreter und ehemalige Stasileute dominierten. Kurzum, die Kommission hatte eher den Charme der Modrow-Ära als der neuen Zeiten. Nichtsdestotrotz hatte sie in bestimmten Fragen und Phasen doch eine bisher zu wenig berücksichtigte Transmissionsfunktion.
Werthebach, schien, wie seine regelmäßige Teilnahme an den Sitzungen zeigte, die Bedeutung der Kommission keineswegs gering zu schätzen. Je klarer der politische Fahrplan in Richtung Vereinigung und der öffentliche Diskurs in Richtung eines Aktengesetzes ging, desto stärker intervenierte der Vertreter der Bundesregierung, desto mehr verließ er auch seine „Berater“-Rolle.
Noch Anfang Mai befand sich die Kommission ganz im Mainstream der DDR-Debatten. „Eine sofortige oder baldige Vernichtung (komme) nicht in Frage..., da die Möglichkeit der Rehabilitierung ... geschaffen werden muß... Auch im Interesse einer historischen Aufarbeitung... ist einer alsbaldigen Vernichtung nicht zuzustimmen.“Zugleich war man, was angesichts der Zusammensetzung und der Dominanz von Berliner Vertretern und Angehörigen zentraler Instanzen der DDR nicht verwundert, mehrheitlich für eine „zentrale Aufbewahrung der personenbezogenen Daten“, die, so wurde implizit deutlich, angeblich einen besseren Datenschutz erwarten ließ. Dass hinter dieser scheinbar rein organisatorischen Frage die von Zugang und Kontrolle stand und dass diese Lösung nicht zuletzt auf die Zurückdrängung der im Zuge der Revolution gewachsenen informellen Strukturen abzielte, wurde durch den Einspruch des Vertreters der Bürgerkomitees deutlich, der für eine „auf Länderebene zu bildende Institution“ plädierte.
Ein erster konkreter, wenn auch moderater Vorstoß zur Aktenvernichtung kam Ende Juni vom Staatssekretär im MdI (der DDR) . Trotz Gegenmeinungen wurde immerhin festgelegt, einen „Entwurf zur Rechtsverordnung“ mit Regeln zur „eventuellen Vernichtung“ und eine „Fristenregelung“ für den Aktenzugang vorzubereiten. Eine Untergruppe aus Verwaltungsvertretern sollte für den zweiten Staatsvertrag einen „Entwurf von Leitsätzen“ für den Umgang mit den Akten vorbereiten. Mit dabei Eckart Werthebach. Da sich die politischen Ereignisse beschleunigten und die Volkskammer auf einen Gesetzesentwurf drängte, andererseits Verfassungssschutzinformationen die bundesdeutschen Innenpolitiker aufgeschreckt hatten, kündigte Werthebach eigene Vorschläge zur Überarbeitung des Gesetzesentwurfes an.
Offenbar kamen die Diskussionen selbst im vergleichsweise moderaten MdI und in der Regierungskommission den Interessen der Bundesregierung nicht genügend entgegen.
Kern ihres Unbehagens waren eindeutig die Dossiers zu Bundesbürgern. „Berater“ Dr. Werthebach stellte daher sogar einen Antrag, „ Akten, die vom ehemaligen MfS über Bürger der Bundesrepublik Deutschland angelegt worden sind, entweder sofort zu vernichten, oder sie ihr zu alsbaldigen Verwendung zu übergeben.“ Darüber gebe es auch Übereinstimmung mit den Bundesländern.
DDR-Innenminister Diestel schien auf diese Steilvorlage geradezu gewartet zu haben. Die Mehrheitsstimmung im Ausschuss, die „für die Gleichbehandlung der Akten von Bürgern der DDR und der Bundesrepublik“ war, drehte er um, in dem er – laut Protokoll zwar auch eine Differenzierung zwischen Bundes- und DDR-Bürgern für „fragwürdig“ hielt, aber einer Gleichbehandlung durch „Vernichtung den Vorzug gebe“.
Werthebach ließ nicht locker und trug Anfang August noch einmal sein Anliegen vor, daß die Akten der Bundesbürger „keine Rechtsgültigkeit besitzen und daher zu vernichten seien.“ Die Mehrheit der Kommission lehnte seinen Antrag jedoch ab. Den Minimalkonsens auf DDR-Seite hielt Stefan Heym in einer Abschlußerklärung für die Kommission fest, wonach die „Akten sicherzustellen und zuverlässig aufbewahren zu (seien)..., und Verfahrensweisen durch die sie einerseits vor dem Zugriff Unberufener geschützt seien und andererseits Zutritt zu ihnen für legitime Zwecke – also für juristische und historische –gewährleistet sein würde.“
Die Gesetzgebungsdebatte der Volkskammer hatte sich zu diesem Zeitpunkt allerdings schon weitgehend gegenüber den Vorstellungen der Kommission verselbständigt. Während die erste Lesung noch auf Basis eines Regierungsentwurfes erfolgte, der von der Regierungskommission begleitet worden war, ging die Initiative immer stärker auf den Sonderausschuß der Volkskammer für die Stasi-Auflösung unter ihrem Vorsitzenden Joachim Gauck über. Unter Einbeziehung des westberliner Datenschutzbeauftragten und v.a. im Diskurs mit den Bürgerkomitees bzw. den Regionalvertretern im Volkskammerausschuss, die sich großenteils aus den ehemaligen Bürgerkomitees rekrutiert hatten, entstand so der Entwurf, der schließlich am 24. August verabschiedet wurde.
Gegenüber den zentralistischen Vorstellungen der Regierungskommission fällt v.a. der dezentrale Ansatz auf, der den historischen Gegebenheiten der Revolutionsphase entsprang. Am radikalsten wurde er vom Leipziger Bürgerkomitee verfochten. Die Leipziger hatten am 12. Juni den Antrag eingebracht, ein „Sonderdepot in Leipzig“ zu gründen, das mit fünfzehn seitens des Bürgerkomitees vorgeschlagenen Personen zu besetzen sei. Ihre Aufgabe sei es, „Dokumentationszentren“ zu schaffen, die Akten zu sichern und zu archivieren und für bestimmte Zwecke zu nutzen. “Kontrolliert“ werden sollten diese regionalen Depots vom Ausschuß der Volkskammer und den Regionalparlamenten. Sie wären also dem Zugriff der unbeliebten Berliner (Diestel)-Exekutive entzogen gewesen, die lediglich für die materielle und soziale Absicherung der Mitarbeiter zu sorgen gehabt hätte. Das Leipziger Modell war offenkundig für alle 14 (mit Ostberlin 15) DDR-Bezirke gedacht. Die Leipziger beanspruchten selbstbewußt eine „Vorreiterrolle“ und empfahlen ihr Modell der Volkskammer.
Die Volkskammer griff den Gedanken der Dezentralisierung auf, orientierte jedoch entsprechend dem Stand der Verwaltungsreformdiskussion auf Länderkompetenz, auf eine föderale Struktur mit „Sonderarchiven der Länder“. Als eine Art Primus inter pares sollte ein von der Volkskammer gewählter „Beauftragter“ das Zentralarchiv des MfS in Berlin verwalten, begleitet von einem Beirat der Landesbeauftragten. Insgesamt stand das Gesetz ganz unter dem Leitgedanken der „politischen, historischen und juristischen Aufarbeitung“.
Die Nutzung von Unterlagen, die Angaben über Personen enthielten, sollte im Sinne der Betroffenen streng reglementiert , die durch westliche Geheimdienste für „nachrichtendienstliche Zwecke“ grundsätzlich ausgeschlossen sein. Ermöglicht werden sollte die Verfolgung von Verbrechen, die zu DDR-Zeiten unverfolgt und -gesühnt geblieben waren; ferner eine „gesetzlich geregelte Sicherheitsüberprüfung“, womit ,relativ mißverständlich formuliert, eine Eignungsüberprüfung für den öffentlichen Dienst gemeint war; auf gerichtliche Anordnung sollten Unterlagen in Rehabilitierungs-, Kassations- und Wiederaufnahmeverfahren herangezogen werden; verhältnismäßig liberal war die Nutzung für wissenschaftliche Zwecke geregelt.
Aus heutiger Sicht erstaunlich restriktiv waren die Rechte des Einzelnen definiert, der seine Akte sehen wollte. Dies sollte nur möglich sein, „wenn der Betroffene tatsächliche Anhaltspunktes dafür glaubhaft macht, dass er durch die Nutzung der Akten Schaden genommen hat“, und dies erst nach „Abschluß der archivischen Aufbereitung der Unterlagen“. Diese deutlichen Einschränkungen sind nur verständlich, wenn man berücksichtigt, dass auch in Teilen der Bürgerrechtsbewegung von 89/90 und bei den Kirchen viele die Folgen der Aktenöffnung für das gesellschaftliche Klima fürchteten.
Die Besetzer vom 4. September, die im Zuge ihrer Aktion ihre Forderungen offenbar radikalisierten, standen am anderen Ende des Meinungsspektrums. Sie nahmen die Demonstrationsparole „Ich will meine Akte sehen“ wörtlich und forderten in ihrer zweiten Erklärung, die Akten sollten den Betroffenen ausgehändigt werden. Der Einzelne sollte das Recht erhalten, über Erhalt oder Vernichtung zu entscheiden. „ Wir sind der Meinung, dass jedes Opfer des Regimes das Recht haben sollte, sein Personendossier in die Hand zu bekommen.“
In dem schon erwähnten Telefax vom 21.8. an die Rechtsabteilung des MdI hatte der „Lobbyist“ der Bundesregierung, Eckart Werthebach, noch einmal versucht, das Ruder herumzureißen. Er faßte die Essentials, die offenbar auf einer Ressortbesprechung unter Beteiligung mehrerer Ministerien entstanden waren, zusammen: Dem Entwurf werde „nachdrücklich widersprochen“. Die Bestände müßten „zentral verwaltet“ werden, eine „zentrale Lagerung wird nachdrücklich befürwortet.“ Die Leitung solle einem Sonderbeauftragten unterstellt werden, es wird „vorgeschlagen, den Präsidenten des Bundesarchives...in Personalunion damit zu beauftragen.“ Und: „Eine differenzierte Vernichtungsregelung wird unbedingt als erforderlich angesehen.“ Nach dem Beitritt sei eine Übergangsregelung notwendig, die in Kraft bleiben sollte, bis der „gesamtdeutsche Gesetzgeber eine neue gesetzliche Regelung erläßt.“
Werthebach hatte, offenbar verleitet durch das westliche Vorbild der Verzahnung von Regierung und Parlament in der Ära Kohl, die Dynamik des Parlamentarismus in der untergehenden DDR unterschätzt. Seine Demarche bewirkte zunächst wenig bis nichts. Seine Argumente in die Halböffentlichkeit oder Öffentlichkeit des Ostberliner Parlamentes zu tragen und seine wahren Beweggründe offenzulegen, wagte er offenbar nicht. Nur hinter den verschlossenen Türen des Innenausschusses des Deutschen Bundestages benannte der Vertreter des Innenministeriums deutlich die Interessen der Exekutive. Innenstaatssekretär Neusel hielt das Volkskammergesetz im Einklang mit der DDR-Verhandlungskomission zum Einigungsvertrag „als abschließende Regelung“ für „nicht geeignet.“
Die Verwaltung „des Materials“ in sechs Sonderarchiven durch sechs Sonderbeauftragte sei „nicht akzeptabel“, zumal dann zu erwarten sei , dass der Bestand nach „sechs unterschiedlichen Rechten“ verwahrt werde. „Das sei a u c h (hervorgehoben durch CB) nicht im Interesse der Betroffenen.“
Er plädierte für „eine verläßliche Zusammenführung und Sichtung des vorhandenen Materials“, wobei
Zusammenführung „nicht unbedingt...zentral gelagert“, aber „zentral verwaltet“ heißen müsse. Eine „sichere Aufbewahrung und die eindeutige Festlegung der politischen Verantwortung für die Nutzung des Materials (müsse) gewährleistet sein."
Neusel brachte immer wieder die abstrakten Rechte des Einzelnen ins Spiel, bis er zuspitzte: Die „Monopolisierung“ durch den „Sonderbeauftragten“ und die „Beiratsmitglieder“ nach Volkskammergesetz „gehe völlig an den Interessen z.B. von Bundesbürgern vorbei. Nach vorläufigen Informationen, die man habe gebe es drüben rund 2 Mio. Akten über Bundesbürger, die im wesentlichen durch illegales Abhören in den letzten 10,15, 20 Jahren entstanden seien. Dieses Problem sei überhaupt nicht berücksichtigt.“ Zudem entsprächen die Nutzungsregelungen nicht „unserem Datenschutzverständnis“.
Sei seien „einerseits zu eng und andererseits zu weit.“ Zu weit“, weil die vorgesehene Nutzung des „Materials“ in „personenbezogener Form“ für die „politische, historische und juristische Aufarbeitung“ zu „nicht übersehbaren Gefährdungen des Persönlichkeitsrechts von Millionen von Bürgern“ führe. „Zu eng“, weil „sie für die Einstellung und Weiterverwendung von Personen im öffentlichen Dienst überhaupt nicht zur Verfügung stehen sollen.“
Erhebliche Bedenken äußerte Neusel auch hinsichtlich der Restriktionen bei der Akteneinsicht von Betroffenen. Zudem sei die Löschungsregel „unvollständig und so nicht praktikabel“, das Löschungsverbot „so umfassend“, dass eine Löschung „damit in der Praxis ausgeschlossen werde“. Dies sei v.a. im Hinblick auf die „Dossiers der Bundesbürger, die nahezu ausschließlich aufgrund illegalen Abhörens entstanden seien, „so.. nicht tragbar.“ Das Fehlen von Löschungsvorschriften „führe zu einem unbefristeten Vorhalten des gesamten Datenbestandes“. Dies treffe unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, es stelle einen massiven Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen dar und führe zu „einer weiteren Gefährdung des Persönlichkeitsrechts für die Bürger.“ Es sei geboten, „differenzierte Vernichtungsregelungen“ einzuführen.
Die Ausführungen Neusels machen deutlich, wie sehr die Frage der Organisationsstruktur und Anbindung des künftigen Stasi-Archives in Wirklichkeit eine Frage der Verfügung und der Speicherung und Verwendung von Akten war, die die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Abhördossiers offenbar äußert restriktiv handhaben wollte. Nicht die historische Aufarbeitung, sondern adminstrativ kompatible Ziele wie die Überprüfung des öffentlichen Dienstes und Unrechtsbereinigungsfragen wie die Rehabilitierung und die Strafverfolgung standen im Vordergrund. Im Rahmen der Strafverfolgung wollte man den ostdeutschen Sensibilitäten zum Trotz auch keineswegs auf den Verfassungsschutz verzichten. Da die Staatsanwaltschaft theoretisch auch ohne Verfassungsschützer ihre Arbeit hätte tun können, war dies möglicherweise als Einfallstor für weitere Nutzungsmöglichkeiten gedacht.
Da es der Bundesregierung misslungen war, auf dem Weg über die Exekutive und die Regierungskommission die DDR-Gesetzgebung hinreichend in ihrem Sinne zu beeinflussen, versuchte sie im Nachgang, ihre Interessen über die Verhandlungen zum Einigungsvertrag durchzusetzen. Die Essentials, die Werthebach in seinem Telefax formuliert hatte, wurden mehr oder minder wörtlich in den ersten Entwurf übernommen. Dass dieses wenige Tage nach der fast einstimmigen Verabschiedung des Volkskammergesetzes den Parlamentariern und der DDR-Bevölkerung wie ein Oktroy erscheinen mußte, wurde von den Verhandlungsführern unterschätzt.
Auch wenn die Besetzer vom 4. September streng genommen keineswegs auf dem Boden des Volkskammergesetzes standen – ihre radikalen Forderungen nach Aktenaushändigung gingen weit darüber hinaus –, so hatten sie doch mit ihrer Aktion ein erhebliches Gespür für die Empfindungen der DDR-Bürger gezeigt. Die (freilich überzogene) Furcht, die Akten könnten aus Ostdeutschland zum Bundesarchiv nach Koblenz überführt werden, was nie geplant war, und dort eventuell vom Verfassungsschutz genutzt werden, einte einstige SED-Opfer und SED-Mitglieder. Während die bundesdeutsche Exekutive vorrangig die Interessen der (Alt)Bundesbürger angesichts von (angeblich) 2 Millionen Abhördossiers wahrnahm, hatten die Ostdeutschen nur ihre 4 Millionen Akten im Blick. Diese ostdeutsche Erblast sollte offenbar nur bzw. vorrangig von Ostdeutschen aufgearbeitet werden, nach dem Motto: Wenn, dann waschen wir unsere schmutzige Wäsche selbst. Die Erklärung, die Stefan Heym für die Regierungskommission zur Auflösung des MfS formuliert hatte, traf sich da mit den Erklärungen der Besetzer.
Wie ein Clash of Cultures prallten die Interessen der bundesdeutschen Exekutive und der DDR-Bevölkerung aufeinander. Die Besetzung wurde durch einen Hungerstreik verschärft. Die hauptstädtischen Protestler fanden Nachahmer in der DDR-Provinz. Das Neue Forum sammelte 50.000 Unterschriften, der DDR-Regierung gingen Petitionen von ganzen Städten und Bezirksbevollmächtigten zu, Volkskammerabgeordnete aller Fraktionen stimmten in den Protest ein.
Überraschender Weise konnte diese Protestwelle kanalisiert werden. Joachim Gauck, als Gesetzesinitiator immerhin einer der Auslöser der bundesdeutschen Befürchtungen, kam dem Unbehagen der westdeutschen Seite deutlich entgegen, womit er sich persönlich, nicht ungeschickt, dieser gleichzeitig als künftiger Sonderbeauftragter empfahl. Während er in der Presse Breitseiten gegen die Besetzer um Bohley abschoss, um sie damit in die Minderheitenecke zu drängen, machte er intern offenbar äußerst großzügige Angebote an die Verhandlungsführer.
Laut dem Vorsitzenden des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, Bernrath, hat Gauck Anfang September, also auf dem Höhepunkt des Protestes, in einem gemeinsamen Gespräch „einen Verzicht auf Fortgeltung des Gesetzes der Volkskammer....für möglich gehalten“. Diesem Berichte zufolge hätte Gauck die dezentrale Lösung unter der Voraussetzung preisgegeben, dass durch den Beauftragten eine Beteiligung der Länder in „Einzelfällen“ möglich sei. Auch ein Aktennutzung durch den Verfassungsschutz hat er, so dieser Bericht, unter der Voraussetzung akzeptiert, dass die Dienste zuvor „den Bevollmächtigten informieren“.
Entscheidende Voraussetzung sei, dass nach der Vereinigung eine gesetzliche Regelung „unverzüglich“ in Angriff genommen werde, das Volkskammergesetz dabei als „Arbeitsgrundlage“ diene und dass insbesondere der politische Inhalt des erwähnten §1 “Geist und Zielsetzung des künftigen Gesetzes prägten.“Dieser Vorschlag diente offenbar als Kompromißlinie für die Ergänzungen zum Einigungsvertrag und die dazu gehörige protokollarische Erklärung und schließlich für das spätere Stasiunterlagengesetz von 1991. Gegenüber dem Volkskammergesetz wurden die Rechte des Einzelnen, seine Akten einzusehen, weitgehend liberaler gefaßt, die ursprüngliche Vernichtungs- und Anonymisierungsregelungen näherten sich, wenn auch vor anderem rechtlichen Hintergrund, fast den Positionen der Besetzer an. Der Verfassungsschutz wurde nicht gänzlich von den Akten ferngehalten, wenn auch sein Zugriffsrecht begrenzt. Die Überprüfungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst wurden präziser gefaßt.
Wie sehr das StUG Kompromisscharakter und die „Wunden“ des alten Ostwestkonfliktes trägt, zeigt der § 1. Der Aufarbeitungsgedanke wurde keineswegs eindeutig, wie von Gauck ursprünglich gefordert, als Leitgedanke für das Gesetz akzentuiert, sondern wie ein nebenrangiger Aspekt in die Auflistung der Zwecke eingereiht, unterhalb des Datenschutzes, so wie es der traditionellen Sichtweise des BMI entsprach. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis der alte Konflikt wieder hochkochte, und zwar – keineswegs zufällig – im Jahr 2000 aufgrund der Stasi-Akten von Altkanzler Kohl. Die Abhörakten waren in der DDR nicht gänzlich vernichtet worden und auch die in den Westen gelangten nur zum Teil. Die Abgeordnetenfrage nach der Strafvereitelung im Amt durch die 1990 angeordnete Aktenvernichtung war ohnehin unbeantwortet geblieben.
Christian Booß, geboren 1953 in Berlin (West), Studium der Geschichte und Germanistik, war für das ORB Politmagazin „Klartext“ tätig, 2001-2006 Pressesprecher der BstU, derzeit Bundesarchiv-Filmarchiv.