Was ist Aufarbeitung?
von Christian Booß
aus Horch und Guck Heft 56/2006 | Themen | Seite 47 - 51
Seit 1989 ist »Aufarbeitung« zum zentralen Begriff der Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur geworden. Doch was ist Aufarbeitung? Der Begriff bleibt in der Regel weitgehend unbestimmt. Wo und wann genau er aufkam, ist bis heute unklar. 1990, in der Debatte zum Gesetz über die Zukunft der Stasi-Unterlagen im nunmehr frei gewählten DDR-Parlament, der Volkskammer, gehörte er schon zur sensu communis. Joachim Gauck, der Vorsitzende des Sonderausschusses zur Auflösung des MfS/AfNS, bezeichnete die »politische, historische und juristische Aufarbeitung« als die »grundsätzliche Zweckbestimmung und die grundsätzliche Richtung«, der sich »anderes unterzuordnen« habe. Dieser dominante Zweck rechtfertigte Gauck zufolge sogar, dass die vom Bundesdatenschutzrecht geforderte Vernichtung von rechtswidrig entstandenen Unterlagen unterbleibt. Damit »ordne« sich das Aufarbeitungsziel in das »Prinzip der Rechtsstaatlichkeit« ein.1
Entsprechend diesen Überlegungen stellte das Stasi-Unterlagen-Gesetz der Volkskammer im § 1 das Prinzip der Aufarbeitung voran. Der Begriff wird freilich nirgendwo im Gesetz definiert. Auch die Debatte zur endgültigen Verabschiedung gibt wenig Aufschluß über die Begriffsbestimmung. Offenbar waren sich die Handelnden damals einig in dem, was sie meinten.
Die bundesdeutsche Exekutive hingegen trachtete zunächst danach, die Aktenöffnung auf pragmatische Einzelzwecke zu begrenzen: die Wiedergutmachung, die Rehabilitierung von Betroffenen, die Feststellung einer offiziellen und inoffiziellen Tätigkeit für das MfS/AfNS, insbesondere die Abgeordneten- und Kandidatenüberprüfung, die Verfolgung von bestimmten Straftaten. Auf Grund der Proteste der Volkskammer und weiterer Protestaktionen wie der zweiten Besetzung der Stasi-Zentrale im September 1990 wurde der »Grundsatz« des Volkskammergesetzes per Zusatzvereinbarung als eine Art verbindlicher Fußnote zum Einigungsvertrag in die bundesdeutsche Rechtsordnung übernommen, in der Erwartung, dass »der gesamtdeutsche Gesetzgeber die Voraussetzungen dafür schafft, dass die politische, historische und juristische Aufarbeitung … gewährleistet bleibt.«2
Auch wenn die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen der DDR bei den Wahlen zur Volkskammer und später zum Bundestag überraschend geringe Wahlergebnisse erreichten, bestimmten sie doch zumindest bis zur Vereinigung am 3. 10. 1990 und während der Vorbereitungen des Stasi-Unterlagengesetzes den Tenor der Debatte. Insofern ist die relativ ausführliche Begründung zum Gesetzentwurf von Ingrid Köppe und Bündnis 90/Die Grünen vom 26. Mai 1991 ein aufschlussreiches Dokument für die Motive und Zielsetzungen, die hinter dem Begriff »Aufarbeitung« standen.3 Von grundsätzlicher Bedeutung ist zunächst die Perspektive, aus der die ehemaligen Bürgerrechtler Aufarbeitung definieren und betreiben wollten: Sie stellten dem MfS als »Rückgrat des totalitären Systemes« die Repressierten gegenüber, die »wirklichen und vermeintlichen Gegner der Deutschen Demokratischen Republik, die zum größten Teil einfach Andersdenkende waren«. Aufarbeitung wird also aus der Perspektive derjenigen gesehen, die Beobachtung, Einschüchterung und Verfolgung ausgesetzt waren. Der Opferbegriff wird vermieden, da die Gruppe der Betroffenen an dieser Stelle sehr weit gefasst ist. Zudem wirkte die Erinnerung an die erfolgreiche Revolution, mit der es ja den DDR-Bürgern gelungen war, ihre passive Rolle als Objekte von Herrschaft abzuschütteln. Entsprechend wird Aufarbeitung in der Kontinuität der Revolution von 1989 gesehen. Die Aufarbeitung sei »eng« mit der »Auflösung des MfS« verbunden gewesen, die Kenntnis seiner Arbeitsweisen und Strukturen wiederum Voraussetzung für die Auflösung.
Im Folgenden wird ein Programm der persönlichen, historischen, juristischen und politischen Aufarbeitung umrissen. Die Unterpunkte werden nicht scharf von einander getrennt, sondern gehen ineinander über, bilden zusammen ein Programm zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat.
Die »Information der Gesellschaft und jedes einzelnen über sich selbst« wird zunächst als »Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung definiert«, also zunächst schlicht als ein Rechtsanspruch des Individuums.
Sodann wird dem Einzelnen diese Auseinandersetzung als Akt der Befreiung, als quasi therapeutischer Schritt aus den Befangenheiten der Diktaturerfahrung heraus empfohlen. »Nur durch Wissen lässt sich zurückgebliebene Angst vor der Allmacht der Staatssicherheit abbauen.« Aufarbeitung wird als aktives Erinnern des Einzelnen definiert, das eine Voraussetzung für die gesellschaftliche Überwindung der Diktaturfolgen ist. Defizite beim Wissen würden zu »Misstrauen« führen, die Auflösung sei »unvollständig«. Aufarbeitung wird so als ein Vorgang angesehen, durch den die ehemals Repressierten Vertrauen in die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnen können. Sie sei Voraussetzung für den »inneren Frieden des einzelnen und der Gesellschaft.« Auch wenn dieses Ziel idealistisch-harmonisch wirkt, wird ein Programm der politischen Bildung bzw. Selbstbildung im Sinne der Stärkung von Demokratie angestrebt. Aufarbeitung fördere das »selbstbewusste Handeln« der Bürger und damit die »Ablehnung von Machtmissbrauch«, sie werde so zu einer »Quelle der Demokratisierung« und trage durch breite Beteiligung der Öffentlichkeit zur Entwicklung des »politischen Rechtsbewusstseins« bei.
Der juristischen Aufarbeitung zuzuordnen dürfte der Anspruch sein, vermittels Aufarbeitung könne man zu einem »abgewogenen und differenzierten Beurteilung der Verantwortung kommen und Kriterien für den Umgang mit ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit finden«. Erst durch eine bessere Kenntnis sei der »rechtsstaatliche Umgang« mit den Handlungen des MfS möglich. Aufarbeitung leiste so auch einen entscheidenden Betrag zur Herstellung von »Gerechtigkeit«, die Voraussetzung für den »Rechtsfrieden nach jahrzehntelangem Unrecht« sei.
Beschrieben wird Aufarbeitung damals vor allem aus der Sichtweise der ehemaligen DDR-Bürger. Der Westen Deutschlands bleibt ausgeklammert. Andererseits wird die internationale Dimension herausgearbeitet, auch sie insbesondere aufgrund der einstigen Zugehörigkeit zum Ostblock: Die Aufarbeitung der Wirkungsweise der Repressivorgane besitze »Bedeutung über die Grenzen Deutschlands hinaus«, sie könne ein Bespiel für die Aufarbeitung in anderen Ländern setzen und auch »Beispielwirkungen für die Demokratiebewegungen in den Ländern des ehemaligen sozialistischen Blocks ... und für all jene Länder, in denen Diktatur herrschte und herrscht.«
Resümierend ist festzuhalten: Für die ehemaligen Bürgerrechtler hilft Aufarbeitung sowohl dem Individuuum, sich von den Diktaturfolgen zu befreien und so zum selbst- und rechtsbewussten Bürger in der gelebten Demokratie zu werden, als auch der Gesellschaft, die Beurteilungskriterien für die Verhältnisse und Verantwortlichkeiten in einer Diktatur gewinnt, mit dem Ziel, im Sinne der Betroffenen einen Gerechtigkeitsausgleich herstellen zu können. Dieser Prozeß soll dazu beitragen, die Gesellschaft zu befrieden, Demokratie und Rechtsstaat zu stärken und darüber hinaus international Beispiel gebend wirken.
Diese grundsätzlichen Überlegungen kamen im Rahmen der Bundestagsdebatten zum Stasi-Unterlagengesetz in der zweiten Jahreshälte 1991 wenig zum Tragen. Offenbar führte der zeitliche Druck, unter dem das Gesetzgebungsverfahren stand, zu einer Betonung gesetzestechnischer und Einzelfragen. Dennoch ließen verschiedene Redebeiträge erkennen, dass die Essentials, die die Bürgerrechtler zuvor formuliert hatten, weitgehend auf Zustimmung stießen. Von der PDS einmal abgesehen, waren die unterschiedlichen Akzente in der Debatte weniger darin begründet, dass das Anliegen der Aufarbeitung an sich in Zweifel gezogen wurde, sondern dass es unterschiedliche Auffassungen gab, wie weit die Rechte der Aufarbeitung gehen und wie lange sie greifen dürften. Aufarbeitung selbst blieb der prägende Begriff der Debatte.4
Johannes Gerster, der Meinungsführer der Regierungsfraktion CDU/CSU, sah das Stasi-Unterlagengesetz nach der Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für die Bewahrung und Nutzung des Archivguts von Staat und SED als zweiten Schritt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Bildhaft und pragmatisch zugleich fasste er diese Aufgabe als »Aufarbeitung der Ruinen und Trümmer des SED-Stasi-Staates«, als »Beseitigung der Verwerfungen, die in mehr als 40 Jahren im Osten unsers Landes von der SED zu verantworten sind.« (Gerster, CDU/CSU, I. Lesung)
Abstrakt kreisen die meisten Debattenbeiträge um die gleichen Aufarbeitungsziele: »Es geht um Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden.« (Barbe, SPD, II./III.Lesung) Die Abgeordneten betonen, dass das Gesetz v.a. die Opferperspektive berücksichtige: »Jeder, der das Gesetz liest, muss sehen, dass im Mittelpunkt der Regelungen der Schutz der Stasi-Opfer steht«, wobei Schutz hier keineswegs den Datenschutz im engeren Sinne meint, sondern geradezu auch die Rechte des Opfers auf Aufklärung im weiteren Sinne (Gerster, CDU/CSU, II. Lesung). Der persönlichen Aufarbeitung wird daher ein hoher Stellenwert zugemessen; das immer wieder genannte Ziel des »inneren Friedens« (Büttner, CDU/CSU, II. Lesung) soll in erster Linie auf Basis von Erkenntnissen des Einzelnen über sich und sein persönliches Umfeld erreicht werden. Sehr plastisch benennen gerade Abgeordnete aus dem Osten Deutschland die Gefühle ihrer Wähler: »Insbesondere durch das Auffüllen jener schmerzlichen weißen Flecken in den persönlichen Lebensläufen der Betroffenen, durch das Erklärbarmachen, warum persönliche Lebens- und Leidenswege so und nicht anders verlaufen sind und wer als Führungsoffizier, wer als inoffizieller Mitarbeiter oder wer in schriftlicher Form als Denunziant dabei in Erscheinung getreten ist, werden maßgebliche Voraussetzungen für die persönliche Aufarbeitung« geschaffen ( Schwanitz, SPD, I. Lesung). Gerd Poppe (Bündnis 90/Grüne), selbst Betroffener von Stasi-Ausforschungen, wirbt darum »die dunklen Stellen in unserer Biographie aufzuhellen« (II. Lesung). Der Abbau individualpsychologischer Hemmungen ist für ihn eine Voraussetzung zur gesellschaftlichen Diktaturverarbeitung: »Jede Verdrängung des Geschehenen verstellt uns den Weg zum Neuanfang. Jedes Schweigen macht uns hilflos gegenüber neuem Unrecht.« Hinter der Erwartung, dass individuelle Aufarbeitung zum inneren Frieden in der Gesellschaft beitragen könne, standen auch hohe Erwartungen an einen Täter-Opfer-Ausgleich, die aus heutiger Sicht sehr ideal, um nicht zu sagen idealistisch anmuten: Rainer Eppelmann hofft »sehnlich, dass die Verabschiedung dieses Gesetzes der neue Anstoß für manchen der vielen Täter sein kann, von sich aus noch heute auf sein Opfer zuzugehen, sich zu offenbaren und so selber Versöhnung mit einzuleiten und vorzubereiten.« (Eppelmann, CDU, II. Lesung) Angestrebt wird zwar mittelfristig die Täterintergration, nicht aber um den Preis der vordergründigen Versöhnung.
Neben dem Nutzen für das Individuum erwarteten die Abgeordneten des deutschen Bundestages von der Aufarbeitung einen präventiven politischen und gesellschaftlichen Nutzen, v.a. durch Information: »Es geht darum, sich schützen zu können gegen Verfahrensweisen, Methoden von Diktaturen.« (Barbe, SPD, I. Lesung) Aufarbeitung soll auch helfen, Verantwortlichkeiten genauer zu erkennen und »vorwerfbare Schuld und Verstrickung in ein System« differenzierter zu betrachten. (Hirsch, FDP, I. Lesung)
Fast schon tagespolitisch motiviert – die ostdeutschen Abgeordneten beziehen sich auf Gespräche und Erfahrungen aus ihren Wahlkreisen – muten die Forderungen nach Prävention und Bekämpfung von Seilschaften an. Für Schwanitz ist sie eine Herausforderung der »wehrhaften Demokratie« (Schwanitz, SPD, I. Lesung). Die Erweiterung der Überprüfung und Selbstüberprüfung von Institutionen war Bestandteil des neuen Gesetzes: »Auch die kleinen Könige ... in den Städten und Kreisen sollen nicht weiter auf Thronen sitzen, die ihnen nicht zustehen. ….Bei der Wende riefen wir damals: Stasi in die Volkswirtschaft!...Aber wir meinten damit nicht: Stasi in Chefetagen, in die öffentlichen Ämter oder die Parlamente.« (Monika Brudlewski, CDU, II. Lesung) Oder: »Die Menschen in den neuen Bundesländern erwarten sehr wohl, dass jene Rudimente des Ministeriums für Staatssicherheit, welche auch heute noch in ihrer Tätigkeit gegen die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik gerichtet sind, von den zuständigen Stellen der Bundesrepublik beobachtet, überwacht und, soweit strafrechtlich relevante Dinge vorliegen, strafrechtlich verfolgt werden.« (Schwanitz, SPD, I. Lesung)
Aufarbeitung wird als öffentlicher Prozeß definiert, als »öffentliche Aufarbeitung«(Barbe, SPD, I. Lesung). Ingrid Köppe, Exponentin des Neuen Forums in Fraktionsgemeinschaft mit Bündnis 90/Grünen, gehen die Möglichkeiten der Öffentlichkeit sogar nicht weit genug (Köppe, II. Lesung). Nach Kontroversen um die ersten StuG-Entwürfe fordert die FDP die Medien auf, »bei der politischen und historischen Aufarbeitung mitzuwirken« (Schmieder, FDP, II. Lesung).
Mehrere Redner widmen sich dem, was man die Regeln der Aufarbeitung nennen könnte. Mehr oder minder explizit wird deutlich, dass hinter den Kulissen Ansichten aus West und Ost aufeinanderprallten. Noch in der ersten Lesung gab es Bedenken gegen das Offenlegen von IM-Namen, in der zweiten und dritten Lesung überwiegt das Vertrauen in den zivilisierten Umgang mit den Akteninhalten, ein Vertrauensvorschuß, der gelegentlich in Appelle gekleidet wird: »Wer den Rechtsstaat will, der darf bei der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit die Grenzen des Rechtsstaates nicht überschreiten.« (Gerster, CDU/CSU, II. Lesung) Angelika Barbe betonte das Prozeßhafte der Aufarbeitung; es gehe bei dem Gesetz nicht um Lösungen: »Es geht um Regeln der Auseinandersetzung, es geht um Beteiligungsmöglichkeiten der Gesellschaft an der Auseinandersetzung, es geht um eine Ethik des politischen Handelns.« (Barbe, SPD, II. Lesung)
Deutliche Vorbehalte gegen das Gesetz kommen nur von einzelnen, von zwei konträren Seiten, der PDS und der CDU/CSU. Während die PDS Aufarbeitung nur als Vorwand sieht, DDR-Institutionen abzuwickeln, gibt ein CDU-Abgeordneter zu bedenken, ob man über die Vergangenheitsfragen nicht die Gegenwarts- und Zukunftsfragen vernachlässige. Auch der Vertreter des Innenministeriums fragt am Mainstream des Parlamentes vorbei, »ob wir die Aktenberge der Staatssicherheit unbefristet, ad infinitum aufheben sollen.« (Lintner, CDU/CSU, I. Lesung)
Insgesamt zeigt die Debatte jedoch ein großes Maß an Gemeinsamkeiten, mit Anflügen, die Aufarbeitung auch als gesamtdeutsches Thema zu begreifen: »Auch die Westdeutschen müssen die Möglichkeit haben, gedanklich nachzuvollziehen, wie ein totalitäres System Personen und eine ganze Gesellschaft verändern, geradezu verkrüppeln kann.« (Gisela Schröter, SPD, II. Lesung)
»Aufarbeitung« war 1991, auch wenn rechtliche Einzelfragen über weite Strecken die Debatte beherrschten, der zentrale Begriff der Bundestagsdebatte zum Stasi-Unterlagengesetz. Hohe Erwartungen waren an diesen Prozeß geknüpft. In erster Linie sollten die Opfer nachholend zu ihrem Recht kommen, zuallererst durch umfassende Information über die Beeinträchtigungen ihrer Biographie. Mittelbar soll die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht nur dem Einzelnen, sondern auch der Öffentlichkeit nutzen. Der selbstbewußte Bürger in einer aufgeklärten Gesellschaft ist Mittel wie Ziel der Diktaturüberwindung und -prävention. Drittens erwartete man sich einen Beitrag zum Elitenwechsel und Erkenntnisse für Justiz und Politik, um die Schäden der Vergangenheit zu beheben und, soweit es geht, Gerechtigkeit herzustellen und die Demokratie zu festigen.
1991 hatte sich der Aufarbeitungsbegriff als Beschreibung eines gesellschaftlichen Prozesses zur Behebung der Diktaturfolgen in der Gesamtbundesrepublik offenkundig etabliert. In der Altbundesrepublik war er, zumindest in der Geschichtswissenschaft, bei weitem nicht in dem Maße geläufig. In »Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politische-sozialen Sprache in Deutschland« von 1972 findet sich zwischen »Arbeiter« und »Auflärung« kein Stichwort »Aufarbeitung«. Das Fischer Lexikon zur Geschichte von 1990 kennt zwar das Stichwort »Astrologie«, dem jedoch ohne »Aufarbeitung« die »Aufklärung« folgt. Einen ähnlichen Befund zeigt das DDR-Wörterbuch der Geschichte aus dem Dietz-Verlag von 1983. Auch im allgemeinen Sprachgebrauch scheint die historische Aufarbeitung bis 1989 im Westen so gut wie keine Rolle gespielt zu haben. Der Duden von 1977 nennt fünf Bedeutungen von »aufarbeiten«, darunter so konkrete Vorgänge wie das Aufarbeiten von Möbeln, von Beständen, das Zusammenfassen von Forschungsarbeiten, nicht jedoch die nachträgliche Auseinandersetzung mit einer Diktatur.
Wichtigste begriffsgeschichtliche Quelle einer Begriffsverwendung in letzterem Sinne ist zweifellos Theodor W. Adornos Schrift: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«5 Adorno misstraut, 1949 aus dem Exil zurückgekehrt, der deutschen Demokratie. »Der Nationalsozialismus lebt nach«, befürchtet er.6 »Demokratie hat sich nicht derart eingebürgert, dass sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen.« Zwar hält Adorno die von den Alliierten eingeführte und garantierte Demokratie für stabil, aber für eine Demokratie ohne wirkliche Demokraten. Er zielt damit keineswegs auf die eingrenzbare Gruppe der Altnazis, sondern auf die Masse der Bevölkerung, die noch vor nicht allzu langer Zeit die Hand zum Hitlergruß gestreckt hat. Ihre Abwehr gegen historische Wahrheiten zeige »Zeichen eines psychisch Nichtbewältigten«.7 Hinter Adornos Überlegungen steckt die Theorie vom autoritären Charakter, der sich auf Grund seiner Ich-Schwäche mit großen Kollektiven identifiziere.8 Der Nationalsozialismus habe den »kollektiven Narzismus«, die »nationale Eitelkeit ins Unermessene« gesteigert. Durch den Zusammenbruch des Nationalsozialismus sei dieser kollektive Narzismus nun »auf schwerste geschädigt«. Das sei »sozialpsychologisch« das Wesen der »unbewältigten Vergangenheit«.9 »Der beschädigte kollektive Narzismus (lauert darauf)..., repariert zu werden und (greift) nach allem..., was zunächst im Bewusstsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzistischen Wünschen bringt.«10 Adorno empfiehlt eine »demokratische Pädagogik«, die dem »Vergessen« entgegenarbeitet, »das nur allzu leicht mit der Rechtfertigung des Vergessenen sich zusammenfindet.«11 Für den Philosophen ist diese »Art von Schutzimpfung« eine Aufgabe v.a. von Pädagogen und Psychologen, die »subjektive Aufklärung« betreiben. Sie ist keineswegs nur Aufklärung im Sinne der Erinnerung an historische Fakten, sondern zielt auf die Veränderung der Verhaltensweisen der Individuen, »aufs Subjekt, auf die Verstärkung von dessen Selbstbewusstsein.«
Im Begriff »Aufarbeitung« verbindet Adorno Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse zu einer Art Anamnese des Individuums in seinem gesellschaftlichen Kontext. Sein Begriff von Aufarbeitung nimmt Wissenschaft eindeutig für einen gesellschaftlichen Zweck in Anspruch: die Stärkung und Festigung der Demokratie und die Stärkung des demokratischen Selbstbewusstseins ihrer Bürger. Mehrmals polemisiert er gegen Wissenschaft, die »unterm Vorwand wissenschaftlicher Objektivität der dringendsten Aufgabe« sich entzieht.12 Aufarbeitung ist also mehr als rein historische Betrachtung der Vergangenheit, sie hat die Gegenwart zum Ausgangspunkt und zielt darauf ab, sie zu beeinflussen. Nicht zufällig zeigen sich in diesem Aufsatz sowohl vom Titel als auch vom Inhalt her Anklänge an Kants »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von 1783. Wie Kant zielt Adorno auf die Emanzipation des einzelnen und der bürgerlichen Gesellschaft. Heute würde man von einem zivilgesellschaftlichen Programm in einer postautoritären Gesellschaft sprechen.
Auch wenn sich zweifelsohne nicht alle heutigen politischen Richtungen auf den Mitbegründer der Kritischen Theorie beziehen würden, ist es doch erstaunlich, wie stark manche Gedanken des Frankfurter Philosophen Gemeingut geworden sind. Auch 1992, in der Debatte des Deutschen Bundestages zur Einsetzung der Enquete-Kommission »Politischen Aufarbeitung der DDR-Geschichte«, dominiert der Aufarbeitungsbegriff. Hier wird er nicht mehr nur auf den Überwachungsapparat des MfS angewendet, sondern als Oberbegriff für die Auseinandersetzung mit Staat und Gesellschaft in der Diktatur, deren Folgen und die daraus zu ziehenden politischen, juristischen und sonstigen Schlußfolgerungen. Psychologisierend wird davor gewarnt zu »verdrängen«; gefordert wird ein »gesellschaftlicher Prozeß«, der wohl als Diskussions- und Lernprozeß zu verstehen ist.13 Auch die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP beschreiben Aufarbeitung als einen »schmerzlichen Lernprozeß zwischen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Empfindungen«, der sich den »Regeln und Normen des demokratisch-rechtsstaatlichen Dialogs unterwirft«14 und sowohl den Einzelnen zu mehr »Orientierung im Umgang mit der eigenen Verantwortung und der Schuld anderer führen« als auch politische »Handlungsempfehlungen für den Gesetzgeber« zur Folge haben solle. Im Unterschied zu Adorno setzen die Parlamentarier nun aber offenbar weniger auf ein psychologisch-pädagogisches Programm, sondern auf Selbstaufklärung. Denn anders als 1945 ff. hatte man nicht eine Befreiung von außen, sondern eine Selbstbefreiung der (Ost-)Deutschen hinter sich.
Die Begriffsgeschichte zeigt: Aufarbeitung etablierte sich im Gefolge der friedlichen Revolution von 1989 als der dominante Begriff zur Beschreibung der Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen einer Diktatur. Aufarbeitung bedeutet weit mehr als historische Forschung, auch wenn sie sich am Kriterium der Wahrheit ausrichtet. Sie ist wertorientiert, sei es, weil sie die Perspektive der in der Diktatur Unterdrückten einnimmt oder ihr universelle Werte wie Demokratie und Rechtsstaat zugrunde liegen. Die Auseinandersetzung mit der Diktatur ist ein Lernprozeß des Einzelnen und der Gesellschaft, bei der sich beide verändern, allein schon, weil sie sich in zivilisierten Bahnen und unter Einhaltung von Regeln vollzieht, die selber schon einen Zugewinn an Zivilisierung bedeuten. Aufarbeitung ist jedoch kein statischer Begriff, sondern steht für ein Programm, das ausgehend von Eckpunkten jeweils neu zu definieren ist. Auch wenn der Begriff der Aufarbeitung zuweilen neben den Zielen der strafrechtlichen Verfolgung und Rehabilitierung genannt worden ist und 1989 v.a. im Zuge der Stasi-Auflösung an Bedeutung gewann, ist er doch der große Oberbegriff für den gesamten Komplex der Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur, ihren Auswirkungen und den daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen. Verständlicherweise ergeben sich dabei allmählich Aufgabenverschiebungen. Während z.B. der strafrechtliche Versuch, nachträglich so etwas wie Gerechtigkeit walten zu lassen, auf Grund rechtsstaatlicher Verjährungsfristen endgültig abgeschlossen sein dürfte, sind – gerade wegen der naturgemäß unzureichenden juristischen Aufarbeitung – Bemühungen um finanziellen oder gar moralischen Gerechtigkeitsausgleich durch adäquates Gedenken keineswegs überholt. Auch die flächenhafte Überpüfung auf Stasi-Mitarbeit stößt im Laufe der Zeit zunehmend auf rechtsstaatliche Grenzen, obwohl sich das Problem der Bildung anti-demokratischern Seilschaften nicht erledigt hat. Eher zu kurz gekommen sind bislang Fragen der internationalen Vernetzung des kommunistischen Systems und der Rückwirkungen postdiktatorischer Gesellschaften im Osten auf die unsrige. Zudem hat der Opferbegriff zuweilen den Blick auf die Breite der Mechanismen der Diktatur und damit auf die Vielfältigkeit der Weiterwirkung von post-diktatorischen Mentalitäten verstellt. Den Begriff »Aufarbeitung« weiterzuentwickeln ist also sicherlich 15 Jahre nach der Revolution vom Herbst 1989 notwendig, denn ihn ad acta zu legen hieße implizit davon auszugehen, dass die Folgen der Diktatur beseitigt sind. Aber wer will das behaupten?
Christian Booß, geb. 1953 in Berlin (West), Studium der Geschichte und Germanistik an der Freien Universität Berlin, Journalist, beschäftigt bei der BStU.
1 Zit. nach: Protokolle der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 10.Wahlperiode (5. April bis 2. Oktober 1990) , Opladen 2000, S. 1452 ff.
2 Zit. nach Schumann, Silke, Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-Unterlagengesetzes, BstU-Abteilung Bildung und Forschung, Berlin 1995, S. 210 ff.
3 A.a.O. S. 235 ff.
4 Die folgenden Redebeiträge zit nach Stoltenberg, Klaus: Stasi-Unterlagen-Gesetz, Baden-Baden 1992 S. 353 ff.
5 Adorno, Theodor W, »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« in ders:. Eingriffe, Neun kritische Modelle, 6. Auflage, Frankfurt a. M., 1970
6 A.a.O. S. 125.
7 A.a.O. S. 127.
8 A.a.O. S. 133.
9 A.a.O., S. 135.
10 A.a.O. S. 135f.
11 A.a.O. S. 141.
12 A.a.O. S. 144f.
13 Enquete-Kommission: Anträge, Debatten, Berichte, Bd. 1, Baden-Baden 1995, S. 3ff.
14 A.a.O. S. 18 ff.